Eine Rucksackreise durch Japan – Zweiundzwanzigster Teil – Mit Höchstgeschwindigkeit zur Regeneration

3. August 2024
11 Minuten Lesezeit
  1. Eine Rucksackreise durch Japan – Erster Teil – Die Ausfahrt „Nichtraucher“
  2. Eine Rucksackreise durch Japan – Zweiter Teil – die ersten Schritte
  3. Eine Rucksackreise durch Japan – Dritter Teil – auf die inneren Werte kommt es an
  4. Eine Rucksackreise durch Japan – Vierter Teil – Sprachbarrieren
  5. Eine Rucksackreise durch Japan – Fünfter Teil – Zu Gast bei Familie Takahashi
  6. Eine Rucksackreise durch Japan – Sechster Teil – Heiß, Heißer, Onsen
  7. Eine Rucksackreise durch Japan – Siebter Teil – It’s a Long Way From Home
  8. Eine Rucksackreise durch Japan – Achter Teil – Kontraste
  9. Eine Rucksackreise durch Japan – Neunter Teil – Allein unter Tausenden
  10. Eine Rucksackreise durch Japan – Zehnter Teil – Yukatas, Trommeln und eine Erkenntnis
  11. Eine Rucksackreise durch Japan – Elfter Teil – Ein langes Gespräch und wenig Bewegung
  12. Eine Rucksackreise durch Japan – Zwölfter Teil – Mitten im Nirgendwo
  13. Eine Rucksackreise durch Japan – Dreizehnter Teil – Die Magie der Zeit
  14. Eine Rucksackreise durch Japan – Vierzehnter Teil – Klima, Verkehr und ein Paar auf Hochzeitsreise
  15. Eine Rucksackreise durch Japan – Fünfzehnter Teil – Die Stadt des Tons
  16. Eine Rucksackreise durch Japan – Sechzehnter Teil – Eine Zeitreise
  17. Eine Rucksackreise durch Japan – Siebzehnter Teil – Kyoto, die Stadt der Reizüberflutung
  18. Eine Rucksackreise durch Japan – Achtzehnter Teil – Ein Tag in der Mall und eine Massage
  19. Eine Rucksackreise durch Japan – Neunzehnter Teil – Die Suche nach Tee und das Nachtleben
  20. Eine Rucksackreise durch Japan – Zwanzigster Teil – Körperlich ausgelaugt
  21. Eine Rucksackreise durch Japan – Einundzwanzigster Teil – Ein Tag im Nebel
  22. Eine Rucksackreise durch Japan – Zweiundzwanzigster Teil – Mit Höchstgeschwindigkeit zur Regeneration
  23. Eine Rucksackreise durch Japan – Dreiundzwanzigster Teil – Der Schrittzähler bleibt stehen
  24. Eine Rucksackreise durch Japan – Vierundzwanzigster Teil – So viel Zeit und doch nichts passiert
  25. Eine Rucksackreise durch Japan – Fünfundzwanzigster Teil – Besserung und neue Pläne
  26. Eine Rucksackreise durch Japan – Sechsundzwangzigster Teil – Hören-Sagen
  27. Eine Rucksackreise durch Japan – Siebenundzwanzigster Teil – Narita
  28. Eine Rucksackreise durch Japan – Achtundzwanzigster Teil – Eine zufällige Bekanntschaft
  29. Eine Rucksackreise durch Japan – Neunundzwanzigster Teil – Die letzten Einkäufe
  30. Eine Rucksackreise durch Japan – Dreißigster Teil – Die Rückreise & Abrechnung
Rucksackreise-Japan 22

Früh am Morgen aufwachend, sammelte ich meine Sachen zusammen, packte den blauen Riesen und all meinen Proviant, um mich schleunigst auf die Reise nach Tokio machen zu können. Ich suchte einen der freundlichen Mitarbeiter auf, um mir doch bitte ein Taxi zum Regionalbahnhof zu bestellen. Bevor ich es vergaß, stellte ich die Frage, die mich nun schon seit Tagen umtrieb: „Wie heißen diese Yukatas, die man in den Ryokans zum Schlafen bekam?“. Leider konnte ich diese Frage noch nicht in japanisch stellen, was mir an diesem speziellen Ort auch nicht viel helfen hätte sollen, da der Mitarbeiter selber Koreaner war und nach eigener Aussage wesentlich besser Englisch sprach. Er verriet mir, dass es sich bei diesen Kleidungsstücken um eine Unterart der Yukatas handele. Man nannte diese speziellen Gewänder aus Baumwolle, mit seinen charakteristischen geometrischen Mustern, „Nemakis“ (寝巻き). Endlich! Nun, einige Tage vor Ende meiner Reise hatte ich das Mysterium um diese perfekte Mischung aus Schlafanzug und Bademantel klären können. Doch vorerst sollte mir dieses Wissen nichts bringen. Mein dringlichstes Anliegen war erstmal die Fahrt in die Hauptstadt, um dort schleunigst einen Arzt aufzusuchen. Das „International Hospital“, ganz in der Nähe eines Bahnhofs auf meinem Weg zum bereits gebuchten Hotel, sah vielversprechend aus und ich konnte es nicht erwarten endlich ein Erklärung für diese Unannehmlichkeit zu erhalten.

Das Taxi rollte vor, der Fahrer half mir das Gepäck in den Kofferraum zu befördern und fuhr mich bergab zum Bahnhof. Es war wirklich ein schöner Ort, der seinen ganz eigenen Charme hatte. Diese Lage am Hang und die überall dampfenden Schornsteine, wunderbar. Ich lernte, dass man als Anwohner eine Lizenz bei der Verwaltung kaufen konnte, um sich den Zugang zum thermisch aktiven Untergrund legen zu lassen. So erklärte sich, warum gefühlt jeder vierte Haushalt solche einen permanent dampfenden Schornstein im Garten stehen hatte.

Vom Bahnhof Beppu-Oita musste ich nur einige Minuten in der lokalen und noch im Umfang des Rail-Pass enthaltenen Linie sitzen. Die zunehmend schmerzhafteren Schritte zu einem Ticketschalter, in diesem Fall in Hakata, ging ich ein letztes Mal. Ich kaufte mir zur Ausnahme in Ticket im Nozomi, einem der Shinkansen, der nur wenige Stopps machte und sogar auf separaten Schienen zu Höchstgeschwindigkeiten von bis zu 300 km/h kam. So rauschte diese silbrige Schlange durch die grüne Pracht dieses atemberaubenden Lands in nur 4 Stunden und 40 Minuten über eine Distanz von fast 1000 Kilometern. Ich greife ein wenig voraus, um meinen Punkt zu untermauern, wenn ich festhalte, dass der erste Zug, den ich in Deutschland nehmen würde, erheblich unkomfortabler war und wesentlich länger brauchte für eine Strecke, die kürzer sein sollte. Dazu mehr am Tag meiner Rückreise. Das eine oder andere Mal war ich kurz des Atems beraubt, wenn dieser Schnellzug durch Tunnel und über Anhöhen rauscht und man als Fahrgast die negativen gravitären Kräfte spürte, die Einen ein wenig aus dem Sitz zu heben schienen.

Mein Zwischenfazit zum öffentlichen Nahverkehr in Japan: Einfach Großartig!!! Zwar muss man sich bewusst werden, dass der ÖPNV für Touristen um einiges günstiger ist, als für die Einheimischen, aber die Verbindungen, die Taktung, die Ausstattung und die Dichte des Netzes bleibt schier beeindruckend. Wie unglaublich einfach und schön das Reisen in Europa sein könnte mit einer Infrastruktur, die nur im Ansatz an dieses Niveau heranreichen mochte. Ein Ausflug von Berlin nach Paris, mit seinen ungefähr 1100 Kilometern, in knapp fünfeinhalb Stunden durchgehender Reise abreißen zu können, klingt verlockend. Die Realität gestaltet sich derzeit so, dass man sich fast immer mit eintretenden Verspätungen plagen müsse, teilweise zwei Anschlüsse brauchte und einen saftigen Ticketpreis von rund 200 bis rund 500 € für eine Fahrt von 9 bis 18 Stunden in Kauf zu nehmen. Ein günstig Alternative ohne zu fliegen, bietet nur der sich mit grünen Farben zu erkennen gebende, private Anbieter für Reisen zu Straße und Schiene. Eine Reise der selben Strecke dauert dort ungefähr 20-25 Stunden, kostet aber dafür nur 60-80€. Und da wundert sich ernsthaft irgendwer, dass die Option für knapp 40€ in 2 Stunden einfach jene Strecke zu fliegen, häufiger gewählt wird?

Nun denn. Ich erreichte nach meiner aufregenden Schnellzugreise die angepeilte Station und humpelte, nun unter Schmerzen mit jedem Schritt, zum Krankenhaus. Diese Beschreibung war reichlich übertrieben, denn was ich vorfand war eine Arztpraxis, wie man sie als gewöhnliche Hausarzt-Praxis in Deutschland kannte. Nach einer kurzen Anmeldung, kam ich auch schon sofort ran.

Ich blätterte meine Kleidung von den betroffenen Stellen und die sofortige Reaktion der Ärztin überraschte mich. Sie meinte, dass sie eigentlich keine Expertin zu Hautkrankheiten sei und mir nicht helfen kann…

Kurz war ich gelinde gesagt schockiert über diese rationale und nichts kaschierende Ehrlichkeit, doch stellte sich mir eine Enttäuschung ein. Allerdings hatte ich nicht erwartet, was nun folgen sollte. Sie wollte eine befreundete Hautärztin anrufen und mich dorthin überweisen, um mir sofort zu helfen. Nur Momente später hörte ich sie das Telefonat führen und es schien vielversprechend für mich auszusehen. Heute hätte sie noch freie Termine und eine der Praxishelferinnen würde mich sofort dorthin bringen, um mir bei der Anmeldung zu helfen. Fast hätte ich vor Freude geweint, so sehr überwältigte mich diese Hilfsbereitschaft und die Gewissheit endlich Hilfe zu erhalten. Ich verabschiedete mich vom Team dieser Praxis und schlurfte in Begleitung der Praxishelferin zur Hautärztin. Aus den Erfahrungen mit deutschen Hautarztpraxen darauf eingestellt nun den Rest meines Tages dort sitzend zu verbringen, bereitete ich mich mental auf alles vor und wurde überraschend zügig nach nur knapp 20 Minuten aufgerufen. Nun ging alles ganz schnell.

Ein Blick von der Ärztin hatte gereicht, sie musste nicht mal eine Lupe herausnehmen oder irgendetwas anfassen, um zu erkennen, was mit meiner Haut nicht stimmte. Mit einer Mimik, die in einer ganz eindeutigen Gewissheit und fast schon unterforderten Gelassenheit aussprach, was ihr Mund nicht tat, sagte sie: „Es ist eine Entzündung der Haut.“

Die Gründe dafür waren der viele Schweiß, die Reibung und die konstante Feuchtigkeit. Ganz simpel und einleuchtend. Jedoch ein wenig zweifelnd bat ich sie jeden Zweifel auszuschließen und streckte ihr meinen ebenso mit Entzündungen übersäten Hintern/Oberschenkel-Region hin. Sie war sich sicher, es war einfach eine sehr, sehr starke Hautirritation.
Ebenso zügig wie ihre Diagnose verschrieb sie mir zweierlei Kortison-Cremes, eine sehr starke für meine funktionsunfähigen Füße und eine mildere für meinen Beine und Unterkörper. Vielmals dankend, mich verbeugend und sichtlich erleichtert verließ ich, nicht ohne am Ausgang die erstaunlich günstige Rechnung zu zahlen, die Praxis. Direkt auf der gegenüberliegenden Seite befand sich eine kleine Apotheke, wo sie mir die Cremes frisch anrührten, in kleine Tuben pressten und mir das Projekt meiner nächsten Tage überreichten. Ein kleines Gespräch mit einer der Apothekerin, in geselliger Laune, getragen vom positiven Ausblick darauf doch noch ein wenig durch Tokio laufen zu können und nicht gänzlich ans Hotel gefesselt zu sein, stellte sich auch ein.

Gewappnet mit, wie sich heraus stellen sollte, maximal potenter Creme, wagte ich den schleichend langsamen Weg zum Hotel „Sakura Jimbocho„. Es war ein Hotel einer Kette ganz in der Nähe des Kaiserpalasts (皇居). Die kleine Cafeteria und Lounge, sowie die Terrasse, würde mein Ort der Heilung in den nächsten Tagen sein. Die Mitarbeitenden dort waren sehr nett. Sie erleichterten mir das Gespräch, indem sie von Beginn an Englisch sprachen, obwohl ich versuchte japanisch zu reden. Das inkludierte Frühstück, sowie die ständige Verfügbarkeit von verschiedenen Getränken erschien mir sofort sehr sympathisch.
Beim Betreten des Zimmers musste ich mich doch ein wenig in meiner Euphorie gebremst fühlen. Der Raum war nur ein kleines Stück länger als das Bett, das neben sich gerade noch so viel Platz ließ, um am Ende dieser kleinen Kammer meinen Rucksack an die Wand zu stellen ohne diesen hinein quetschen zu müssen. Die Klimaanlage über der Tür kühlte diesen winzigen Raum auf angenehme 25 Grad herunter. Der Wechsel vom über 20 Quadratmeter großen luxuriösen, mit Tatamis ausgelegten, Shōjis (schiebbare, mit Reispapier bespannte Trennwände) umrahmtem und einem eigenen Wasserkocher ausgestatteten Raum, fiel mir nicht ganz leicht. Ich richtete mich mit der neuen Situation ein, war aber vor allem Eines. Ich war erleichtert über ein eigenes Bett in einem eigenen Zimmer, einer freundlichen Atmosphäre im Hotel und der Lobby, den Medikamenten zur Behandlung meines Körpers und viel Zeit.

Die Ressource Zeit schien den meisten Touristen leider nicht gegönnt. So wirkte es zumindest häufig. Viele wollten in ihrem hart ersparten Urlaub das Maximum an Effizienz an den Tag legen, um im besten Fall alle Sehenswürdigkeiten abzuklappern, in allen höchst bewerteten Restaurants zu essen und die wichtigsten Aussichtspunkte für Fotos zu besuchen. Es war mir in diesem Moment bewusst welches finanzielle Privileg ich mit diesem Urlaub genoss und andererseits wie wenig Geld bedeutete, wenn man nicht gesund war. Denn ich scherte mich in diesem Moment nicht um Tokio, nicht darum, ob ich dieses oder jenes Gebäude fotografieren musste. Selbst wenn ich die Motivation fände, mein ganzer Körper wehrte sich vehement gegen jeden Schritt. Mittlerweile waren die Entzündungen an den Füßen so stark angeschwollen, dass ich mit jedem Schritt auf stechend schmerzenden Sohlen lief.

Mein Rucksack stand nun in der Ecke meiner kleinen Kammer, ich beschmierte einen Großteil meines Unterkörpers mit der Kortisonsalbe, die so stark war, dass ich eine sofortige Wirkung verspürte. Nicht nur ein kühlendes, den Juckreiz beruhigendes Gefühl, auch ein leichtes Kribbeln machte sich an den behandelten Stellen breit. Es war bereits früher Nachmittag und ich ergab mich meiner Situation und legte mich hin. Die bereitgelegte Nemaki trug ich in Erinnerung an die vielen Ryokans auf meiner Reise, bewegte mich vorsichtig um die Salbe nicht überall zu verteilen, legte ich mich auf das Bett und schlief. Dies war der Beginn einer dreitägigen Regenerationsphase, die ich nun zwischen meinem Zimmer, der Hotel-Lobby und einigen Versuchen das Hotel zu verlassen, langsam humpelnd verbrachte.

Mein Mittagsschlaf wurde vom Lärm vor der Tür unterbrochen. Mein Zimmer lag im Erdgeschoss, gegenüber der Waschbecken, Gemeinschaftstoiletten und Duschen nur einige Meter von der Rezeption entfernt. Ich störte mich im ersten Moment daran, war eh sehr genervt von meiner Situation, zog mich um, humpelte zur Rezeption und fragte, ob noch ein anderes Zimmer verfügbar gewesen wäre, das leiser gewesen wäre. Die Rezeptionisten durchforsteten ihr System und versicherten mir, dass ich am nächsten Tag in ein anderes Zimmer ziehen hätte können. Dankend nahm ich dieses Angebot an und schleppte meinen Körper in die mit Gesprächen aller möglicher Sprachen gefüllte Lobby. Dieses Hotel bot auch geteilte Zimmer an, was den vielen Wechsel, die Diversität der Gäste und das allgemein eher jüngere Publikum zu erklären schien.
Am Rande des Bereichs, wo gegessen und geredet wurde, stand nahe des Ausgangs zur außen liegenden Terrasse eine kleine Kabine von ungefähr einem Quadratmeter Fläche. Es war der Raucherraum im Hotel, der zwei Menschen beherbergen konnte. Ich war immer wieder erstaunt darüber, dass man diese kleinen Kabinen im inneren aufstellte, anstatt den Raucherbereich außerhalb zu platzieren. Man muss aber auch sagen, dass die darin verbaute Luftfilteranlage so einwandfrei und stark saugend funktionierte, dass man keinen Rauch oder anderen Gestank im Raum wahrnehmen konnte.

In der Lobby saß eine bunte Mischung aus Touristen. Zum ersten Mal auf meiner Reise traf ich deutschsprachige Menschen und geriet mit ihnen ins Gespräch. Ein Münchner, ein Allgäuer und eine dreiköpfige Familie aus Münster sollten in den kommenden Tagen häufigere Gesprächspartner werden. Einige dieser, für mich denkwürdigen Gespräche versuche ich im Folgenden aus dem Gedächtnis zu paraphrasieren.

An diesem ersten Abend belief sich mein Abendessen auf einen umfangreichen Einkauf beim Konbini um die Ecke. Glücklicherweise waren gleich drei Läden in nur 2 Minuten Fußweg erreichbar. Diese zwei Minuten dehnten sich für mich in den ersten Tagen auf 5 bis 10 Minuten, da ich wirklich nur schwer vorankam und das Gefühl hatte auf sehr scharfkantigen Litschis zu laufen, die sich in meine Haut bohrten.
Mit dem Einkauf, um mich für zwei Ruhetage vorzubereiten, setzte ich mich mit meinem Abendessen in die Lobby und überhörte ein Gespräch zwischen zwei Italienern neben mir. Beide waren irgendwas zwischen 24 und 28 und redeten laut, stark gestikulierend und expressiv in die moderate Atmosphäre der Lobby hinein. Es war unschwer zu überhören, dass die Zwei über die letzte Nacht im Party-Viertel der Stadt redeten. Zwar lernte ich nie italienisch, aber das bisschen Französisch aus der Schule und einige Grundlagen Spanisch vom Reisen ermöglichten mir es zumindest einen groben Kontext und einige zentrale Erlebnisse aus ihrer Erzählung nachzuvollziehen. Ich wollte nicht der Tischnachbar sein, der mit großen Ohren, neugierig ob der spannenden Leben der anderen Menschen dort saß, doch ließen sie mir in ihrer Lautstärke keine wirkliche Wahl, als wissbegierig zuzuhören und versuchen zu verstehen. Es dauerte nur einige Minuten, da fanden wir miteinander Kontakt und sie erweiterten ihre Gesprächsrunde für mich. Sie wechselten auf Englisch, obwohl ich ihnen vergewisserte, dass ich auch einen gewissen Teil ihrer italienischen Konversation nachvollziehen konnte. Die zwei Italiener waren nur ein paar Tage in Japan, fast ausschließlich in Tokio. So flossen die Stunden dahin im Austausch über Insider-Konbini-Tipps, einige sehenswerte Orte in Tokio und das Reisen an sich.

Als einer der Zwei dann die Gesprächsrunde verließ, wechselten wir auf die Terrasse, die an die Lobby angrenzte und die zur Straße gelegene Außenseite des Hotels abgrenzte. Unter einem Dach, auf den mit rotem Kunstleder bespannten Sitzecken und Metallstühlen sitzend, fuhren wir nun zu Zweit fort im Gespräch. Der Ton des Gesprächs änderte sich schnell und ich stellte etwas Eigenartiges fest. Es gab scheinbar eine ganze Generation von Menschen, die verwirrt, unsicher, emotional nicht bereit und suchend durch diese Welt wanderten. Wie ich zu diesem Eindruck nach unserem zweistündigen Gespräch auf der Terrasse kam, versuche ich hier nachzuerzählen.

Er, nennen wir ihn Gio, war Mitte-Ende Zwanzig, besuchte die Schule, studierte in Bologna, hatte bis vor einigen Monaten eine feste Freundin und war somit irgendwie ein ganz gewöhnlicher Typ. Doch da war diese eine Sache, mit der ich nachfühlen konnte und die ihn schwer beschäftigte. Gio hatte ein Problem mit der Abhängigkeit, denn er offenbarte mir, dass er diesen Urlaub als ersten Versuch annahm, um sich vom nahezu täglichen Konsum von Cannabis zu entsagen.
Man muss dazu wissen, dass die Beschaffung von Drogen in Japan sehr schwer war und die danach suchenden Personen schnell in den direkten Kontakt mit der Unterwelt kamen. Die Strafen dafür waren außerdem diabolisch. Also wollte sich Gio seinen Urlaub als „Detox“-Reise selbst rechtfertigen. Während ich ihm von meiner Geschichte mit Substanzen, meinen Beziehungen und Motiven zu Reisen erzählte, wuchs in Gio eine Gesichtsausdruck, den ich nicht anders beschreiben konnte als überrascht. Er stellte fest, dass er nicht der Einzige war, dem diese Themen unbequem und manchmal hinderlich ins Leben schlugen. Seine Beziehungen verliefen meist ähnlich ab, endeten fast immer damit, dass er sich emotional zurückzog und die anfängliche Passion in Gleichgültigkeit abebbten. Der damit verbundene Rückzug in den Rausch war sicherlich ein weiterer Trick, um sich den gezwungenermaßen auszuhaltenden Gefühlen nicht stellen zu müssen.

Mir tat Gio ein wenig Leid, auch wenn mir gleichzeitig seine witzelnde und charmante Art vermittelte, dass es ihm wohl nicht all zu schlecht ging oder er einfach optimistischer an das Leben herantrat. In jedem Fall gab mir mein Gesprächspartner große Komplimente und hing an meinem manchmal schwafelnden Erzählungen. Ich war nun schließlich kein Therapeut und konnte auch nur aus eigener Erfahrung berichten. Jedoch schien er so interessant, dass es sich manchmal wie eine Lektion von jemanden anfühlte, der schon einmal den sich für Gio abzeichnenden Weg gegangen wäre.
Seine Fragen und Äußerungen zeugten von einer aufgeweckten Neugier. Allerdings schien es fast so, als würde Gio sich nur zu gern in die Hände anderer geben. Zwar sprach er davon eine allgemeine Unabhängigkeit anzustreben, war aber bereit sich wie eine Brausetablette in etwas ihm Geliebtes aufzulösen. Als ich einige Tage später hörte, dass Gio sich in eine junge Frau aus Tokio schockverliebt habe und deswegen alle seine Pläne über Bord werfen wollte, tat er mir ein wenig Leid, sowohl ich mich für seine Leidenschaft und sein scheinbar schnell aufblühendes Herz freute.

Unser Gespräch auf der Terrasse streifte durch die verschiedensten Gegenden unserer Gedanken und Erlebnisse, ganz so als würde man mit kindischer Neugier über eine Wiese voller Geschichten laufen. Als die Nacht zum Morgen wurde, wir unsere Redseligkeit allmählich in gemeinsames Schweigen tauschten, entschieden wir uns für eine letzte Zigarette, die wir illegal auf der Terrasse rauchten und gingen unserer Wege.

Dies war nur eines von vielen eigenartigen, witzigen, meine eigene Welt unterstützendes oder hinterfragendes Gespräch der kommenden Tage. Nun gab ich mich erstmal meiner Müdigkeit hin, schmierte mir den Körper erneut mit Salbe ein und fand zum ersten Mal seit längerer Zeit durchgehenden und nicht vom Juckreiz enervierten Schlaf.

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Über den Autor

Lars Hünerfürst

Minimalistisch und musikalischer Comic Enthusiast - lief zu Fuß von Berlin nach Paris.

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