Meine Reise begann früh, denn die Nacht war kurz. Ich hatte ja schließlich schon einige Stunden am vorigen, frühen Abend geschlafen. Gepackt und vorbereitet für die Reise verließ ich frohen Mutes und mit ein wenig müden Beinen das Hotel. Der Weg zur Station war überraschend kurz, viel kürzer als von der Station zur Unterkunft. Seltsam war das schon, dieses Gefühl für Distanz und Zeit. So begann meine Reise, zumindest in der Vorbereitung, schon in einem Bahnhofssupermarkt. In „The Garden“ war ich schwer überrascht von der immensen Fülle an den von mir gesuchten Bentos. „Bento“ war das transportable Gericht, das man zur Arbeit, auf kurzen Zugreisen oder in die Schule mitnahm. Ich konnte mich vor Staunen nicht entscheiden. Die bunten Schilder, die alle schrieen „Kauf mich!“ und „Angebot“ halfen dabei nicht im Geringsten. Nach reichlicher Überlegung wählte ich eine Bento-Box und ein mit Ume (eingelegter Pflaume) gefülltes Onigiri (Reisbällchen). Der Einstand zum japanischen Reisen war damit gemacht. Nun musste ich mich nur noch orientieren. Ich fragte mit meinem gebrochenen Japanisch am Gleis stehend, ob dies auch wirklich der Zug gewesen sei, den ich nehmen wollte. Der ältere Herr versicherte mir die Richtigkeit meiner Wahl und ich freute mich auf die erste Shinkansenfahrt.
Shinkansen sind die japanweit fahrenden Schnellzüge, ungefähr mit einem ICE vergleichbar, wenn auch ein wenig effizienter vom Innendesign. Je nach Linie gäbe es fast keine Sitzgruppen mit Tischen in der Mitte. Ein großer Teil aller Gästen schaute in Fahrtrichtung. An der Rücklehne jedes Sitzes befand sich so ein ausklappbarer Tisch, wie man diesen aus Flugzeugen kannte. Der Kniff bei diesen Zügen war, wie ich später beobachten sollte, dass man die kompletten Sitzreihen in seiner Ausrichtung drehen konnte. Man erschuf sich also selber zusammengehörende Sitzgruppen, je nach Buchung. Es wäre hilfreich eine Reservierung vorzunehmen, hieß es. An diesem Tag hatte ich keine. Dadurch entstanden glücklicherweise keine Probleme, denn der Zug war recht leer.
Die Fahrt war wirklich spannend. Der Shinkansen zog sich durch Hügel, schnitt sich durch Täler und Berge und bot mit dessen rund 250 km/h einen rasanten Überblick übers Land.
Mein Ziel war ein kleiner Ort an der Westküste namens Murakami (村上市). Warum Murakami fragten mich die Anwohner, denn für gewöhnlich verirrten sich dort wenige ausländische Touristen hin. Die Wahl des Ortes ergab sich daraus, dass mir der Autor Haruki Murakami in den Sinn kam, als ich die Hotels in der Umgebung von ungefähr dreieinhalb Stunden Fahrtzeit durchsuchte. Außerdem war das Hotel ein Ryokan, also eine Unterkunft im japanischen Stil. Das bedeutete auf dem Boden auf Tatamis und einem ausrollbaren Futon zu schlafen und sich im Spa-Bereich (Onsen), die häufig gespeist wurden von lokalen heißen Quellen, die müden Muskeln zu kurieren. Der Strand, der Preis und die Gelegenheit auf dem Weg dorthin ungefähr eine Stunde mit der Kamera durch eine ländliche Gegend zu wandern, schien mir überaus verlockend.
Nach der Ankunft am Bahnhof Niigata musste ich in einen der Regionalzüge umsteigen. Diese sind mit deutschen Regionalzügen vergleichbar und haben ein eher gemütliches Reisetempo. Die Vielfalt und Schönheit dieser Region fesselte mich. Seichte Hügel erwuchsen zu hohen Bergen auf der einen Seite des Zugs. Auf der anderen Seite wusch das Meer an die Steilküsten, Strände und die mit hohen Betonwänden untermauerten Straßen. Die Häuser dieser abgelegenen Region standen in kleinen Gruppen inmitten von Reisfeldern, zumeist umrahmt von kleinen privaten Gemüsegärten. Die Felder schimmerten saftig Grün in der Mittagssonne, hier und da flogen weißen Kraniche in die mit Wasser gefluteten Reisacker. Wie im Film will man meinen.
Am Bahnhof Murakami angekommen, bekräftigte sich der Eindruck, den ich durch die Satellitenbilder gewann. Diese kleine Stadt, mit seinen rund 56.000 Einwohnern, wirkte im Vergleich zu Tokio wie ein Dorf. Die einstündige Wanderung entlang der wenig befahrenen Hauptstraße war anregend. Die Mischung der traditionellen Bauweise, mit seinen vielen überlappenden und zumeist schwarze Ziegel tragenden Dächern, der großen Anzahl der mit Reispapier beklebten Fenster, den dazugehörigen Schiebetüren und direkt daneben ein modernes Haus der selben Idee, erfreute mich sehr. Gern würde ich ein solches Haus mal von Innen sehen. Viele der älteren Häuser hatten sehr schöne und gut gepflegte Gärten, in denen hübsch geschnittene Eiben und Fächerahörner standen.
Die Sonne stand hoch und diese doch recht körperlich fordernde Durchschnittstemperatur von 30 Grad schien meine neue Realität für den folgenden Monat zu werden. Kurz vor meinem Ziel entdeckte ich einige seltsame, unregelmäßig stehende und durchgehend rauchende Türme. Wie ich wenig später lernen sollte, waren dies „Überdruckablässe“ für die nur wenige hundert Meter tiefer gelegene und noch aktive vulkanische Bodenschicht. So dampften diese Türme vor sich hin und ich setzte nach einiger Verwirrung den Weg zum Murakami Ryokan Daiseiso (大清荘) fort.
Verschwitzt und durstig kam ich am Hotel an. Ich wurde von einer Dame, die nur einige Jahre jünger als meine Großmutter gewesen sein konnte, empfangen und eingewiesen. Sie übergab mir den Schlüssel und zeigte sich willens auch einige Fetzen Englisch zu reden. Ich stammelte mit meinem ungelenken Japanisch „Danke sehr“ und fragte, ob ich ein Abendessen und Frühstück bekommen könnte. Sie bestätigte mir dies, wir einigten uns auf die Uhrzeiten und ich ging meines Weges zum Zimmer. Dieses schon etwas in die Jahre gekommene Hotel mischte Traditionelles mit Neuem. Ich hatte ein eigenes Badezimmer und Toilette, was, wie ich bei meinen weiteren Besuchen ähnlicher Einrichtungen lernen sollte, nicht zwingend die Norm sei. Meine Augen waren umso größer vor Begeisterung, als ich die Schiebetür zum Zimmer öffnete. Ein komplett mit Tatamis ausgelegter Raum, ein bereits vorbereiteter Futon auf dem Boden, ein Tisch mit einem Bodenstuhl und der am Ende des Raums befindliche Erker samt tollem Ausblick aufs Meer hatten mich sofort begeistert. Der Geruch dieses Raums wurde von den Tatamis bestimmt, wobei ein Hauch von Zeit in der Luft lag. Wie vermutet hatte dieses Hotel sicherlich schon bessere und besser besuchte Zeiten erlebt, denn der ganze Ort wirkte wie ein Urlaubsziel vergangener Tage. Der eindeutigste Hinweis dafür war das verlassene und zerfallende westliche Hotel direkt neben meiner Unterkunft.
Frisch geduscht und bereits mit einem frisch gebrühten grünen Tee versorgt, zog ich zum ersten Mal einen der immer in solchen Hotels bereitliegenden Yukatas an. Diese leichtere, kürzere und luftigere Version eines Kimonos würde nach einem Onsen-Besuch genutzt. Auch zum Schlafen könnte man diese tragen. Allerdings wollte ich noch etwas von Murakami sehen und zog wieder meine kurze Hose und ein T-Shirt an.
Ich ließ die Kamera zurück und schlenderte entlang des Meeres zum Hauptplatz des Strandorts. Überall, ob nun in einem 7-Eleven, einem noch so kleinen Bahnhof und selbst am Strand, befinden sich öffentliche und kostenlose Toiletten. Mindestens so verwunderlich empfand ich die überall stehenden konischen Lautsprecher aus denen häufig Musik oder einfach das Radio tönte. So lief ich also gemütlich auf der Strandpromenade entlang, untermalt von japanischem Jazz-Radio, das gelegentlich von miteinander witzelnden Moderatoren unterbrochen wurde. Das seicht rauschende Meer war an diesem Ort fast allein. Nur eine Familie spielte mit ihren Kindern in der Gischt, ein älteres Ehepaar saß im Schatten ihres mitgebrachten, großen Schirms und ich spazierte dort mit Blick zum Horizont entlang. Ich dachte darüber nach wie belebt dieser Ort wohl einst gewesen sein musste. Wie eng gepackt hier die Menschen nebeneinander gelegen hätten und sich mit lockerem Geld für den Urlaub in der Tasche ein Eis oder ein kaltes Getränk am noch heute existierenden Stand gekauft hatten.
Nur ein paar Minuten und wenige Meter zu Fuß später kehrte ich in kleines Café beziehungsweise Restaurant ein. Eine ältere Dame saß am Ende eines kurzen Tresens an der Wand zur Küche, dahinter der sich mit ihr unterhaltende Gastgeber und Besitzer. Er begrüßte mich überschwänglich japanisch, mit vielen tiefen Verbeugungen und wies mir mit großen Gesten einen Platz auf einer niedrigen, kleinen Couch mit Blick aus dem Fenster zu. Aus der Küche hörte ich die Frau des Besitzers und Chefin des Ladens. Ich bestellte einen grünen Tee, nahm einen Zweiten und lies mich dann hinreißen eine Portion Kimchi und etwas Reis zu bestellen. Der aufgeregte Kellner fragte mich woher ich käme und wie lange ich in Japan reisen wollte. Diese Fragen würde ich noch öfter beantworten sollen. Auffällig war der grundsätzlich andere Gesprächston, den der Besitzer mit mir und mit der am Tresen sitzenden Frau annahm. Mir gegenüber war er groß gestikulierend, mit durchdringenderer Stimme und fast schon anbiedernd freundlich. Ich wusste dies nicht falsch zu interpretieren, denn solche Gesten und Redewendungen, die ich großteils leider nicht verstand, gehörten zum tagtäglichen Gestus von Dienstleistenden. Natürlich würde der Fremde (外人) noch gastfreundlicher angesprochen, als man es vielleicht mit der eh altbekannten Dame und Stammgast am Tresen pflegen würde. Nach meiner Mahlzeit und einigen leise gesprochenen Worten der Einheimischen machte ich mich wieder auf den Weg zurück zur Unterkunft.
Es war nun bereits früher Nachmittag und ich beendete einige nicht abgeschlossene Rezensionen, die ich während des Flugs geschrieben hatte. Die Exklusivität eines eigenen Zimmers wusste ich nach einigen Jahren der Hostel-Reisen umso mehr zu schätzen.
Im Hotel war ein Onsen vorhanden, doch traute ich mich nicht dieses zu benutzen, da ich tätowiert bin. Tattoos gelten in Japan immer noch als symbolisch und häufig sehr praktisch verbunden mit dem Untergrund, der Yakuza. Es empfehle sich daher vorher beim Betreiber nachzufragen, ob es ein Problem wäre oder sich gar eine Muskelkompresse zu kaufen, damit man etwaige Stellen bedecken könnte. Hinzukam, dass ich zu Beginn noch ohne die Google-Translate-App durch die Gegend lief und mit meinem schlechten Japanisch nichts verstanden hätte, geschweige hätte Fragen können. So genügte ich mich mit der schönen Aussicht und dem Gefühl mich in diesem Zimmer aufzuhalten.
Es wurde kühler, die erfrischende Brise vom Meer umspülte das Hotel und ich ließ die Luft durch mein Zimmer hindurch strömen. Welch angenehme Veränderung nach einem Tag solch hoher Temperaturen und Luftfeuchtigkeit.
Mein Tag neigte sich dem Abendessen zu und ich begab mich in den Speisesaal. Dort angekommen wurde ich von einem noch sehr jungen Mitarbeiter empfangen, der mir die Funktionsweise des Abendessens erklären wollte. Verstanden habe ich es leider nur anhand der eindeutigen Gesten und einigen lose zusammenhängenden Worten, die ich heraushörte. Vor mir standen viele kleine Schalen, Schüsseln, Teller und eine metallene Schüssel mit Deckel auf einem Ständer, der einer stark brennenden Paste Platz spendete. Diese einmal entzündet, entwickelte sich das silberne Schüsselchen schnell in einen brodelnden Topf. Die Farben, die unterschiedlichen Geschmäcker und Konsistenzen der Bestandteile dieses Abendessens waren so vielfältig. Ich erinnerte mich nicht jemals ein so facettenreiches Abendessen in einem Hotel gegessen zu haben. Meiner Verzückung machte ich Luft und gab unregelmäßig, von Erstaunen zeugende Geräusche wie „ohh“, „hmm“ oder „ahh“ von mir. Die kleine Gruppe der Senioren, mit denen ich mir den Speisesaal teilte, war ins Gespräch vertieft und nahm nur am Rand Notiz von mir. Zum Abendessen gehörte natürlich ein warmer Tee. In diesem Fall ein Houjicha, also mild gerösteter Tee.
Nach gut einer Dreiviertelstunde verließ ich den Speisesaal und begab mich sehr satt, aber nicht übervoll, zurück auf mein Zimmer. Ich musste mir schließlich noch eine Unterkunft für den kommenden Tag suchen und war doch sehr erschöpft. Dies war erst mein erster ganzer Tag. Die Internetrecherche mit Google-Maps schien erfolgreich, wenn auch mit Umwegen. Die von mir angesteuerte Unterkunft hatte keine Online-Präsenz und ich keine Möglichkeit jemanden anzurufen. All das waren Probleme, um die sich mein Zukunfts-Ich kümmern durfte. Ich zog mich um für die Nacht, ein T-Shirt und Unterwäsche, legte mich auf den Futon auf dem Boden und nur wenige Minuten später schlief ich mit einem inneren Lächeln ein.