Eine Rucksackreise durch Japan – Neunundzwanzigster Teil – Die letzten Einkäufe

12. August 2024
12 Minuten Lesezeit
  1. Eine Rucksackreise durch Japan – Erster Teil – Die Ausfahrt „Nichtraucher“
  2. Eine Rucksackreise durch Japan – Zweiter Teil – die ersten Schritte
  3. Eine Rucksackreise durch Japan – Dritter Teil – auf die inneren Werte kommt es an
  4. Eine Rucksackreise durch Japan – Vierter Teil – Sprachbarrieren
  5. Eine Rucksackreise durch Japan – Fünfter Teil – Zu Gast bei Familie Takahashi
  6. Eine Rucksackreise durch Japan – Sechster Teil – Heiß, Heißer, Onsen
  7. Eine Rucksackreise durch Japan – Siebter Teil – It’s a Long Way From Home
  8. Eine Rucksackreise durch Japan – Achter Teil – Kontraste
  9. Eine Rucksackreise durch Japan – Neunter Teil – Allein unter Tausenden
  10. Eine Rucksackreise durch Japan – Zehnter Teil – Yukatas, Trommeln und eine Erkenntnis
  11. Eine Rucksackreise durch Japan – Elfter Teil – Ein langes Gespräch und wenig Bewegung
  12. Eine Rucksackreise durch Japan – Zwölfter Teil – Mitten im Nirgendwo
  13. Eine Rucksackreise durch Japan – Dreizehnter Teil – Die Magie der Zeit
  14. Eine Rucksackreise durch Japan – Vierzehnter Teil – Klima, Verkehr und ein Paar auf Hochzeitsreise
  15. Eine Rucksackreise durch Japan – Fünfzehnter Teil – Die Stadt des Tons
  16. Eine Rucksackreise durch Japan – Sechzehnter Teil – Eine Zeitreise
  17. Eine Rucksackreise durch Japan – Siebzehnter Teil – Kyoto, die Stadt der Reizüberflutung
  18. Eine Rucksackreise durch Japan – Achtzehnter Teil – Ein Tag in der Mall und eine Massage
  19. Eine Rucksackreise durch Japan – Neunzehnter Teil – Die Suche nach Tee und das Nachtleben
  20. Eine Rucksackreise durch Japan – Zwanzigster Teil – Körperlich ausgelaugt
  21. Eine Rucksackreise durch Japan – Einundzwanzigster Teil – Ein Tag im Nebel
  22. Eine Rucksackreise durch Japan – Zweiundzwanzigster Teil – Mit Höchstgeschwindigkeit zur Regeneration
  23. Eine Rucksackreise durch Japan – Dreiundzwanzigster Teil – Der Schrittzähler bleibt stehen
  24. Eine Rucksackreise durch Japan – Vierundzwanzigster Teil – So viel Zeit und doch nichts passiert
  25. Eine Rucksackreise durch Japan – Fünfundzwanzigster Teil – Besserung und neue Pläne
  26. Eine Rucksackreise durch Japan – Sechsundzwangzigster Teil – Hören-Sagen
  27. Eine Rucksackreise durch Japan – Siebenundzwanzigster Teil – Narita
  28. Eine Rucksackreise durch Japan – Achtundzwanzigster Teil – Eine zufällige Bekanntschaft
  29. Eine Rucksackreise durch Japan – Neunundzwanzigster Teil – Die letzten Einkäufe
  30. Eine Rucksackreise durch Japan – Dreißigster Teil – Die Rückreise & Abrechnung
Rucksackreise-Japan29

Im Laufe des frühen Vormittags wachte ich aus meinem Schlaf der Seligen und Terminlosen auf. Gänzlich frei von Verpflichtungen räkelte ich mich genüsslich im mit glatten Laken bespannten Hotelbett. Es war jenes Material, das den Eindruck der Anonymität, diesen anonymen Fluren, Räume und Hotellobbys unterstrich. Hotels dieser Art hatten, seien sie noch so teuer oder in irgendeiner Art elegant, einen ähnlichen Geruch, eine immer gleichbleibende Temperatur, freundliches Personal, das man beim Verlassen der Unterkunft häufig sofort vergaß und eben jene Zimmer, die einem den Komfort anboten, jedoch nie so einladend oder gemütlich waren, dass man dort einen verregneten Tag verbringen mochte. Es hatte etwas Biederes und war so glatt und unpersönlich wie das Bettlaken meines Doppelbetts.

Zum Glück hatte ich es umdekoriert, denn noch hingen überall verteilt Socken, Unterhosen und T-Shirts die nun endlich bereit waren ordentlich verstaut im großen, blauen Rucksack zu verschwinden. Nachdem ich meine Tasche soweit gepackt hatte, dass ich hätte jeden Moment abreisen können, nahm ich den Weg zum Konbini ums Eck auf mich und besorgte mir einen Kaffee aus der Alu-Flasche. Die Sonne prasste und prahlte mit all ihrer Stärke vom strahlend blauen Himmel herab auf die mit großen Betonsteinen gepflasterten Wege. Ein nahezu eiskalter, kräftiger und fast einen halben Liter großer Espresso am Morgen war etwas woran ich mich hätte gewöhnen können. Mir wurde bewusst, wie ich beim Trinken daran dachte, was mir wohl mit der Rückkehr alles fehlen würde. Es waren doch einige Dinge, die ich gern mitnehmen wollte. Darunter fielen die sehr günstigen und unglaublich vielfältigen Onigiri aus dem Supermarkt. Klar, so manche Supermarktkette bot diese mittlerweile an. Der Vergleich dieser beiden, der Deklaration nach gleichen Produkte enttäuscht aber auf aller Linie. Außerdem würde ich vermissen, dieses reichhaltige Angebot an kalten Tees und Kräuteraufgüssen überall käuflich zu erwerben. Einige dieser Tees haben es schon nach Deutschland geschafft. Doch dann auch nur in „Asia-Supermärkten“ und zu einem unverschämten Preis, sodass man sich dieses Alltagsgetränk fast wie eine edlen Tropfen über die Zunge laufen lassen musste.

Mindestens genau so stark, so stellte ich es mir zumindest vor, würde ich die Art und Weise des öffentlichen Nahverkehrs vermissen. Die Ruhe, die Entspanntheit und Zuverlässigkeit während der Fahrten mit allen Zügen und Bussen in Japan, schien überall sonst auf der Welt fast unmöglich. Wieso eigentlich? Was war daran so schwer einen Zeitplan pünktlich zu bedienen? Wozu gab es denn diese Pläne und Abläufe im Betrieb? Auch die Ruhe und Achtung der Privatsphäre und Ruhe anderer Fahrgäste wirkten immens in mir nach. Ich malte mir aus, wie ich in ein paar Tagen wieder in einer Berliner U-Bahn sitzen würde und mir stellten sich die Haare auf. Es würde sich alles Bestätigen, was ich mir vorstellte und sogar früher als angenommen. Doch dazu mehr am Tag meiner Rückreise.

Ich hatte mich ja schließlich mit meinem neuen amerikanischen Militärfreund verabredet. Eine kurze Nachricht später, um festzustellen, ob er auch schon wach war, trafen wir uns in der Raucherecke und liefen los in Richtung der Mall. Auf dem Weg lag, wie bereits beschrieben, die Tempelanlage, die auch an diesem Tag reich an Publikum war. Wir schlenderten also hier hin und dort hin, er machte einige Fotos mit dem Vermerk, dass seine Mutter diese Anlage lieben würde.

Als wir so über die großen Granitplatten der Tempelanlage spazierten, fiel mir auf, dass sich mein Begleiter vermehrt starrenden Blicken ausgesetzt sah. Dazu muss man sich in Erinnerung halten, dass fast sein ganzer Körper mit Tätowierungen bedeckt war. In auffälliger, bunter Farbe, mit Designs aus Popkultur und Gaming, zog seine Körperkunst nicht nur wohlwollende Blicke auf sich. Immerhin war die Körperkunst Tattoo immer noch extrem stigmatisiert und wurde zumeist direkt mit der Yakuza assoziiert. Natürlich war klar, dass ein ganz offensichtlich Nicht-Japaner wohl unwahrscheinlich der kriminellen Unterwelt angehöre, doch stieß diese Form der Kunst auf eine erlernte Ablehnung. Ganz so als würde man Menschen in Deutschland mit kackbraunen Uniformen konfrontieren. Obwohl auch diese historische Referenz mittlerweile zunehmend wenigen Menschen klar zu sein scheint, wenn man die allgemeine, politische Stimmung der Zeit betrachtete.
Umso überraschter war ich als sich dann im Laufe dieser Tempelanlagenwanderung ein japanisches Pärchen näherte, das auf Englisch fragte, ob sie ein paar Fotos von seinen Tätowierungen machen konnten. Sie waren am Ensemble aus Pokémons, Super Mario und weiteren Figuren der Gaming-Welt interessiert. Sich über das Interesse freuend, streckte er ihnen die jeweiligen Körperteile entgegen und stand Model. Ein Dankeschön in japanischer Manier, mit vielen Verbeugungen und lächelnden Gesichtern, folgte sogleich und wir gingen wieder unserer Wege.

Nun trennten uns nur noch wenige Minuten Fußweg, bergab, durch die kleine alte Siedlung, die ich bereits einige Tage zuvor durchwanderte. Ich dachte, dass dieser Weg der leichteste und schnellste wäre und sich zudem ein schönes Panorama bot. Meine Annahme waren nur zum Teil korrekt, denn nach wenigen Minuten machten wir einen kleinen Stopp. Ich brauchte eine kleine Pause im Schatten, einen Schluck vom kalten Tee und hatte Lust eine Zigarette zu genehmigen, bevor wir in den wenige Meter entfernten Konsumtempel eintraten. Auch mein militärischer Freund konnte eine Pause vertragen, obwohl ich immer dachte, dass vor allem Militär-Menschen in Topp Form sein mussten, um den Dienst zu leisten. Nun ja, er war wohl aus gutem Grund Ausbilder für Nahkampf und nicht in der Abteilung, in der man Gewaltmärsche und Überlebenstraining durchführte.

Als wir dort so standen, auch schon während unserer vorigen Gespräche, stellte ich viele Fragen rund um seinen Dienst. Immer wieder wurde seine Stimme leiser, vorsichtiger, aber gleichzeitig in seiner Ausdrucksweise klarer. Es ging dann zumeist um die Aktivitäten und Erlebnisse seines Einsatz im Irak. Er berichtete mir davon, wie viele seiner Freunde zurückkamen und sich fehl am Platz fühlten, wie sie wochenlang in einer Form der ständigen Bereitschaft und subtiler Angst vor Angriffen bei jedem kleinsten Geräusch zuckten, wie er, als er zurückkam Wochen brauchte, um sich aus seinem Bett und Haus raus zu bewegen. Er erzählte aber auch davon, wie er mit seinen ehemaligen Kameraden saufen ging und wie verschworen und exklusiv diese Gemeinschaft gewesen ist. Sie waren Fremde in einem fremden Land, folgten Befehle und mussten Dinge tun, die sie alle nach Hause brachten. Manchen gelang es damit umzugehen, andere tragen ein Leben lang ein sie bestimmendes Trauma mit sich herum. Es dreht sich natürlich darum, ob man im Einsatz einen Menschen töten musste oder nicht. Da ich, sehr einfältig und fast zu analytisch und rational, ihm diese Frage stellte, belehrte er mich vorerst.
„Du kannst diese Frage nicht einfach so Jedem stellen“, sagte er mit ernster Mine. Dieses Thema würde von den meisten US-Streitkräften mit Auslandseinsatz entweder nicht beantwortet oder als massiver Übergriff empfunden. Zum Glück war ich an einen Menschen geraten, der sehr reflektiert wirkte, sich und seine Geschichte zu verstehen wusste. Schließlich bejahte er meine Frage und schwieg einen Moment, ganz so als würden ihm die Bilder wieder durch den Kopf rauschen.

Vorerst nahm ich nach dieser Belehrung und der auf mich sehr erschreckend, eindrücklichen Antwort etwas Abstand von diesem Thema. Einige Stunden später sollt er mir erzählen, wann und wie es dazu kam. Um nun Details zu ersparen, fasse ich es als Notwehr zusammen. Er sah sich und sein Leben in der Gefahr, von bewaffneten Menschen bedroht zu werden und schoss als Erster.

Es war mir schier unmöglich diese Erfahrung nachzuempfinden. Natürlich kannten wir alle (sehr viele zumindest) Kriegsfilme, Schießereien und anderweitige Actionszenen aus Film und Fernsehen. Jedoch könnte sich niemand nur im Ansatz die Vorstellung machen, wie es sein musste das eigene Leben mit der Waffe in der Realität schützen zu müssen.
Ich wünsche es niemandem, ob nun freiwillig zur Armee gehend oder gar weil der Krieg ins eigene Land eindringt und man sich in der Pflicht sah jenes zu verteidigen. Seien sie Helden oder nicht, am Ende sind es nur die Kinder ihrer Mütter und Väter, die Väter und Mütter ihrer eigenen Kinder, die Brüder und Schwestern der Geschwister und alle fürchten, leiden und fühlen die gleiche schreckliche Last ein anderes Menschenleben beendet zu haben. Wir in Zentraleuropa geborenen Menschen haben bisher die Lebenslotterie gewonnen und merken es nicht einmal. Wir, die in Friede und Freiheit lebend darüber meckern wie ungerecht dieses oder jenes sei und uns nach der Demonstration wieder auf die eigene Couch setzen, die Nachttischlampe anmachen, das Buch oder den Film zur geistigen Ablenkung aus einem endlosen Angebot wählen können und mit offenem Fenster in einer lauen Sommernacht in Ruhe einschlafen.

Die Zigarette war aufgeraucht, das Gespräch auch. Also auf zur Mall, den Geist wieder mit anderen Reizen überfluten und zurück zur Leichtigkeit finden. Die kleinen Häuschen mit ihren bunt blühenden Pflanzen und niedlich dekorierten Eingängen, lenkten meinen amerikanischen Begleiter und mich ab und brachten andere Gespräche hervor. Zu gegebener Zeit erreichten wir nun endlich das Einkaufszentrum. Wir beide wollten noch die allerletzten Einkäufe erledigen, Mitbringsel für die Verwandten und Freunde besorgen. Also schlenderten wir durch die längliche Mall, die in zwei Etagen alles bot, was man sich hätte vorstellen können und wahrscheinlich auch großteils nicht brauchte. Wir trudelten in ein kleines Geschäft, in dem sich einfach jede erdenkliche Form eines Souvenirs finden lassen konnte. Von der Kleidung, über Haarnadeln, Schalen, mit hunderten Mustern bedruckte Wandtücher, bis hin zu Stäbchen und Schmuck. Die Ladenatmosphäre erinnerte an so manches Esoterik-Geschäft in Berlin Prenzlauer-Berg. Ich fand einen seltsam geformten Stein, der mich an eine Finne eines Surfboards erinnerte. Wie mir die Verkäuferin auf sehr gutem Englisch erklärte, waren jene Steine zur Massage von Kopf und Gesicht gedacht. Die aus Jade-Stein gefertigte, glatte und kühle Oberfläche soll dabei helfen Falten und Verspannungen sanft heraus zu massieren. Genau mein Ding, dachte ich und kaufte es. Der Selbstversuch bestätigte ihre Verkaufsfloskeln und ich ärgerte mich später nicht darüber jenen blassgrünen Stein gekauft zu haben. Wer kennt es nicht? Man kauft etwas, des Kaufen Willens und weiß eigentlich schon beim Verlassen des Ladens, dass das grad unsinnig war.

Die Zeit verflog und wir wurden allmählich hungrig. Mit einigen kleinen Snacks im Food-Court stillten wir den immanenten Hunger. Als Dankeschön für meine Gesellschaft, die Gespräche und vor allem die Tour durch den Tempel und die Möglichkeit noch Mitbringsel zu kaufen, lud mich mein amerikanischer Bekannter zum Essen ein. Während seines einen Jahres in Korea lernte er die Korean-BBQ zu lieben. Welch ein Glück, dass direkt neben der Raucherlobby, in der wir stundenlang saßen, ein ebensolches Restaurant zu finden war. Die Vorfreude darauf wuchs in mir, mit jeder zu vergehenden Stunde.

Auf dem Rückweg berichtete er mir noch ein wenig mehr vom Leben in Korea. Abgesehen von seiner dort gewachsenen Begeisterung für Manhwas (die koreanische Version des Manga, also Comic), die er alle digital kaufte und seitenweise verschlang, entwickelte er ein Bild der Mentalität in meinem Geist. Er sagte, dass Korea ganz ähnlich Japans gewesen, nur ungefähr 30 Jahre zurück. Wenn etwas in Japan entwickelt wurde, ein Trend aufkam, eine Bewegung sich zu formen begann, dann brauchte es noch einige Jahrzehnte bis eben jene den Weg aufs Festland schafften. Merkwürdig eigentlich, da sie sich geografisch sehr nah beieinander befanden. Das Verhältnis von Japan und Korea war jedoch der Historie wegen eher schlecht bis miserabel.

Eine Geschichte, die mir besonders im Kopf blieb, befasste sich mit dem Leistungsdruck dem Schüler und Schülerinnen ausgesetzt waren. Laut seinen Aussagen waren die Erwartungen, die an die Jugendlichen gestellt wurden so hoch, dass das nicht erreichen einer angezielten Punktzahl beim jährlichen Aufnahmetest für die Universitäten ganze Familien zerbrachen. Sollte es eben nicht der Fall sein, dass der beabsichtigte Hochschulzugang möglich wurde, so würde es wohl gängige Praxis sein die eigenen Kinder zu enterben und zu entehren. Dies sei ein Grund, warum eine große Zahl von Student*innen Korea verließ. Nicht nur um sich im Ausland bessere Chancen auf einen Uni-Platz zu ermöglichen, den sie mit ihrem immens hohen Bildungsstand der Oberschulen meist spielerisch fanden. Auch die Flucht und das Verlassen der eigenen Familie, die einem mit Schande zu stigmatisieren schien, wäre wohl ein Grund das eigene Land manchmal auf Lebenszeit hinter sich zu lassen. Am deutlichsten wurde es mir, als er vom Tag der Universitätsaufnahmeprüfungen erzählte. Es war einfach absurd. Dieser eine einzige Tag bedeutete für eine gesamte Generation von Schüler*innen einen Weg vorzubereiten, dem sie folgen würden. Nicht nur der Job, der soziale Status und sogar solch scheinbar banale Dinge wie die Partnersuche wurden von diesem einen Tag beeinflusst.

Mein amerikanischer Begleiter leitete diese Geschichte gut ein. Geschrieben aus dem Gedankenprotokoll:
„Ich bin morgens ganz normal zur Basis gefahren. Ich hab mich schon gewundert, warum alles so ruhig war. Die Straßen waren teilweise gesperrt und alles war leer. Ich musste jeden Morgen über so eine große Brücke fahren, die war schon teilweise abgeriegelt, als wäre irgendwas passiert.
Also bin ich zum Schießstand, um meine Lektion mit den Auszubildenden zu halten. Aber der Supervisor hat mir verboten zu Schießen. Niemand würde heute schießen, gar nichts würde heute passieren. Alles was Lärm verursachte war verboten, im ganzen Land. Keine Flugübungen, keine unnötigen Fahrten und vor allem keine Schießübungen. Ich wusste überhaupt nicht was los war. Erst dachte ich es war irgend nen Trauertag oder sonst was wäre passiert. Als mir dann ein Kollege erzählte, dass heute die Uni-Tests geschrieben würden, hab ich so langsam verstanden. Der gleiche Kollege erzählte mir auch, dass diese Brücke, die ich am Morgen benutze nachher voller Krankenwagen sein wird, die Kinder aus dem Tal aufsammeln. Ich habe erst nicht verstanden, was er damit meinte. Also hab ich n paar Stunden später meine Sachen gepackt und bin fürs Manhwas lesen und YouTube gucken, bezahlt zu werden wieder zurück zum Apartment gefahren. Und da standen sie. Gefühlt hunderte Rettungswagen, die sich am Rand der Brücke sammelten. Weißt du was dort passiert ist?“,
fragte er mich. „Nein woher?!“ antwortete ich gespannt.
„Jedes Jahr, immer am selben Tag, schießt die Selbstmordrate durch die Decke. Das sind junge Erwachsene und teilweise Kinder, die sich umbringen, weil sie den beschissenen Test nicht bestanden haben. So kriegen nicht den Platz in der Uni und sind für immer Versager.“

Ich dachte ich hörte nicht richtig, als er mir diese Geschichte erzählte und musste dies im weiteren Verlauf nochmal prüfen. Es schien sich zu bestätigen und es war einfach unfassbar gruselig. Solch eine Kindheit und Jugend, jeden Tag Leistungsdruck, Konkurrenz und Erwartungen zu erfüllen, war wohl ganz offensichtlich nicht gesund. Es verwunderte daher umso weniger, dass das Hamsterrad der Leistungsoptimierung und nach jeglichem Kapital strebende Leben, sei es soziales oder materielles Kapital, zu einem anscheinend stark selbstregulierendem Gesellschaftssystem führte. Ganz ähnlich wie auch Japan auf mich wirkte, streng reguliert durch Gesetze und die Teilnehmer der Gesellschaft an sich. Mir wurde erneut klar, warum ich als individualistisch sozialisierter Europäer, dessen freie Meinung zwar häufig auf unbewussten Gesetzmäßigkeiten der Gesellschaft und erlernten Klischees basierte, wohl niemals vorstellen könnte in einem Land solcher Sozialstrukturen zu leben.

Zwischen all diesen teilweise schweren Themen, fanden wir immer wieder Momente der allgemeinen Erheiterung und einigten uns auf einen Kanon aus Comics und Filmen, die in jede „Must-Do“ Liste gehörten. Wieder am Hotel angekommen, genehmigten wir uns eine Pause, bevor er mir die Welt des Korean-BBQ zeigte.

Man stelle sich das Grillen so vor. Es befand sich ein eingelassener Gas-Grill in der Mitte des Tisches einer Sitzgruppe von vier bis sechs Stühlen. Dieser Grill wurde überdacht von einem kräftigen Fettabzug und man könnte sich die Grillroste, sofern sie zu schmutzig wurden oder sich daran unappetitliche Reste von Verbranntem sammelten, einfach von der Bedienung tauschen lassen. Dann bestellte man aus einer digitalen Karte, also einem Tablet am Tisch, das Grillgut, Salate, Beilagen, Getränke und so weiter. Jedes dieser vielen Kleinigkeiten kam dann auf separaten Tellerchen oder Schälchen. Von da an unterlag es jedem selbst, wie schwarz, roh oder zäh man sein Fleisch grillen wollte. Für Vegetarier war diese Art des Essengehens unsinnig, denn die koreanische Küche und im Speziellen das Koreanische BBQ zeichnete sich durch das übergroße Verhältnis von Fleisch zu nicht fleischlichen Beilagen und Optionen aus.

Mein Gegenüber bekräftigte mehrfach, dass ich bestellen sollte, was ich möchte und dennoch hatte ich das Gefühl auf anderer Leute Taschen zu leben, weswegen ich mich anfangs daran hinderte noch einen Nachschlag und noch ein Extra zu bestellen. Doch als er selbst zum Tablet griff und mich fragte, was ich denn noch haben wollte, liess ich meine unpassende Bescheidenheit beiseite und wir schlugen uns die Bäuche voll. Der Tisch stapelte sich mit Reisschalen, kleinen Tellern, Schälchen in denen ummariniertes Rind lag und Gläser ausgetrunkener Getränke. Es war irgendwie schön nach einer Mahlzeit einen so prall gefüllten Tisch zu hinterlassen. Etwas, das mir auch schon bei meinen anderen Mahlzeiten in den Ryokans der letzten Wochen auffiel. Die vielen kleinen Speisen, jedes individuell portioniert und mit eigener Schale oder Teller präsentiert, führten zu einem Gewirr aus Besteck und Geschirr. Es war eine andere Art des Erfolgserlebnisses und Glücks, das mit der Beendigung eines solchen Essens einherging, als es der eine Teller Pasta Al-Arrabiata hätte bieten können.

Überaus satt und zusehends müde wankten wir die paar übrigen Meter zurück zur Raucherlounge und ließen den Abend ausklingen. Er würde am nächsten Tag abfliegen. Mein Flug war erste einen Tag später. Wir bedankten uns für die gemeinsame Zeit, tauschten zwar den Kontakt um auch nach der Rückkehr über koreanische Comics und Animes zu reden, was dann jedoch nie stattfinden würde. Es war eine der interessanteren Freundschaften auf Zeit.

Lars Hünerfürst

Minimalistisch und musikalischer Comic Enthusiast - lief zu Fuß von Berlin nach Paris.

1 Comment

  1. Hm es gibt viele tolle Watercolor Tattoos im Anime Stil und Art. Aber grundsätzlich ist es in Japan oft schwierig. Es gibt einige Onsen, da wird es toleriert. Da sollte man vorher recherchieren.

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