Eine Rucksackreise durch Japan – Sechsundzwangzigster Teil – Hören-Sagen

9. August 2024
15 Minuten Lesezeit
  1. Eine Rucksackreise durch Japan – Erster Teil – Die Ausfahrt „Nichtraucher“
  2. Eine Rucksackreise durch Japan – Zweiter Teil – die ersten Schritte
  3. Eine Rucksackreise durch Japan – Dritter Teil – auf die inneren Werte kommt es an
  4. Eine Rucksackreise durch Japan – Vierter Teil – Sprachbarrieren
  5. Eine Rucksackreise durch Japan – Fünfter Teil – Zu Gast bei Familie Takahashi
  6. Eine Rucksackreise durch Japan – Sechster Teil – Heiß, Heißer, Onsen
  7. Eine Rucksackreise durch Japan – Siebter Teil – It’s a Long Way From Home
  8. Eine Rucksackreise durch Japan – Achter Teil – Kontraste
  9. Eine Rucksackreise durch Japan – Neunter Teil – Allein unter Tausenden
  10. Eine Rucksackreise durch Japan – Zehnter Teil – Yukatas, Trommeln und eine Erkenntnis
  11. Eine Rucksackreise durch Japan – Elfter Teil – Ein langes Gespräch und wenig Bewegung
  12. Eine Rucksackreise durch Japan – Zwölfter Teil – Mitten im Nirgendwo
  13. Eine Rucksackreise durch Japan – Dreizehnter Teil – Die Magie der Zeit
  14. Eine Rucksackreise durch Japan – Vierzehnter Teil – Klima, Verkehr und ein Paar auf Hochzeitsreise
  15. Eine Rucksackreise durch Japan – Fünfzehnter Teil – Die Stadt des Tons
  16. Eine Rucksackreise durch Japan – Sechzehnter Teil – Eine Zeitreise
  17. Eine Rucksackreise durch Japan – Siebzehnter Teil – Kyoto, die Stadt der Reizüberflutung
  18. Eine Rucksackreise durch Japan – Achtzehnter Teil – Ein Tag in der Mall und eine Massage
  19. Eine Rucksackreise durch Japan – Neunzehnter Teil – Die Suche nach Tee und das Nachtleben
  20. Eine Rucksackreise durch Japan – Zwanzigster Teil – Körperlich ausgelaugt
  21. Eine Rucksackreise durch Japan – Einundzwanzigster Teil – Ein Tag im Nebel
  22. Eine Rucksackreise durch Japan – Zweiundzwanzigster Teil – Mit Höchstgeschwindigkeit zur Regeneration
  23. Eine Rucksackreise durch Japan – Dreiundzwanzigster Teil – Der Schrittzähler bleibt stehen
  24. Eine Rucksackreise durch Japan – Vierundzwanzigster Teil – So viel Zeit und doch nichts passiert
  25. Eine Rucksackreise durch Japan – Fünfundzwanzigster Teil – Besserung und neue Pläne
  26. Eine Rucksackreise durch Japan – Sechsundzwangzigster Teil – Hören-Sagen
  27. Eine Rucksackreise durch Japan – Siebenundzwanzigster Teil – Narita
  28. Eine Rucksackreise durch Japan – Achtundzwanzigster Teil – Eine zufällige Bekanntschaft
  29. Eine Rucksackreise durch Japan – Neunundzwanzigster Teil – Die letzten Einkäufe
  30. Eine Rucksackreise durch Japan – Dreißigster Teil – Die Rückreise & Abrechnung
Rucksackreise-Japan26

Mit dem seit langer Zeit erneut gestellten Wecker wachte ich doch ein wenig zerknittert auf. Zum Glück spürte ich, dass sich meine von dieser fiesen Hautentzündung geschundenen Füße schnell zu erholen schienen. Ich bemerkte nun, dass ich mich zwingen musste nicht weiterhin diesen seltsam, schlürfenden Schongang auf den Außenkanten meiner Fußsohlen zur Gewohnheit werden zu lassen. Also zwang ich mich wieder mehr meiner Fußsohlen zu benutzen.

Das Frühstück genehmigte ich mir mit der Bekanntschaft, die ich mit einem ungefähr gleich alten Mann aus Münster machte, der mit seiner Mutter und Schwester einen Familienurlaub unternahm. Wir verstanden uns gut, trafen uns immer mal in der Lobby, verbrachten einige Zeit in Gesprächen und frühstückten auch manchmal zu viert. So fassten wir in den letzten Tagen den groben Plan, ganz unter Berücksichtigung meines körperlichen Gebrechens, den Kaiserpalast ganz in der Nähe des Hotels aufzusuchen.
Wir trafen uns also zum Frühstück, stärkten uns und liefen los. Ich war mit etwas des noch vorhandenen Tees aus dem Kühlregal und meiner Kamera ausgestattet unterwegs. In kurzen Hosen, mit Sonnenbrille im Gesicht und beiden Taschen im gewohnten Kreuz über meinen Oberkörper hängend, machte ich mich auf.

Der Weg zum Kaiserpalast war sehr kurz und schneller als erwartet, passierten wir dann noch die Kontrolle am Eingang. Diese Taschenkontrolle erschien lediglich eine Formsache, denn niemand interessierte sich ernsthaft für den Inhalt der Taschen. Was hätte aber auch in einer offensichtlich nach Kamera aussehenden Tasche und einer flachen Umhängetasche transportiert werden sollen, das Gefahr auswirkte. Bomben wohl ganz Gewiss nicht und um an Schusswaffen heranzukommen, hätte ich in die tiefsten Kreise der Unterwelt abtauchen müssen, da diese, nicht wie in den USA wie Süßigkeiten an der Tankstelle, verfügbar waren.

Wir schritten über die kleine Steinbrücke des Burggrabens hin zum ersten Tor. Die vielen Pforten zum Hof des Palasts waren nie in einer Sichtlinie angeordnet, da sich so eine mögliche Invasion besser in ihrem Momentum bremsen und von den hohen Mauern mit Pfeil und Bogen zerlegen ließ. Die massiven, mit Metallbeschlägen verstärkten Tore ragten fünf bis sechs Meter in die Höhe. Sie mussten unglaublich schwer gewesen sein, mit einer Dicke die an meinen Unterarm heranreichte. Getragen wurden diese massiven Holztore von riesigen Eisenschanieren, die in die Mauern aus Natursteinen gemauert, mehrere Meter dick und nur schwer zu erklimmen, diese Korridore einrahmten. Jene Steine schienen mit ihrer glatt geschlagenen, passgenau gearbeiteten, dunkelgrauen Oberfläche wie Kunsthandwerk. Diese Art den Stein zu bearbeiten war jedoch weit verbreitet und gehörte für viele Kulturen und Regionen dieser Welt zum Ausdruck ihrer Baukunst. Oben auf den Mauern befanden sich zum Schutz vor eindringenden Samurai-Armeen überdachte Korridore, mit schmalen Schießscharten für all die Wachleute, die wohl zu den besten Bogenschützen des Landes gehört haben mussten. Nach einigem Zick-Zack erreichten wir schließlich den im Hof dieses Geländes gelegenen Park.

Das gesamte Palastgelände sei rund 110.000m2 groß, wobei nur einige Teile der Öffentlichkeit zugänglich waren. Am Geburtstag, sowie dem Neujahrstag hingegen, konnte man sich mit einer vorab zu tätigen Anmeldung auch den inneren Palast ansehen. Wir schlenderten also durch diese schier endlose Weite des öffentlichen Parks.
Auf einer Plattform stehend, von der ein großer Teil des Parks übersehen werden konnte, wurde einem die Absurdität dieses Geländes und der Stadt bewusst. Dieses Gelände wirkte inmitten der gläsernen und den in der frühen Mittagssonne spiegelnden Hochhäusern wie ein Fremdkörper. Aus diesem Ort heraus schein es jedoch andersherum der Fall, die Stadt drumherum war das, was nicht hier hätte stehen müssen. Man ließ seinen Blick über das Grün der großen Wiese, der hier und dort wachsenden Jahrhunderte alten Bäume und den grauen Steinmauern wandern und stieß unweigerlich auf einen alles überragenden Rand aus Hochhäusern, die kalt, blau und glatt die Moderne abbildeten. Dieser Ort, wie schon einige andere während der Reise, fassen ideal das zusammen, was ich schon einige Male versucht habe als gelebter Dualismus zu beschreiben. Die Gleichzeitigkeit von Tradition und Moderne, komprimiert auf wenigen Metern, in Sichtweite und doch voneinander losgelöst, koexistierten problemlos. Die damit einhergehenden Fragen zum Umgang mit der eigenen Geschichte und der Bedeutung der selbigen als identitätsstiftendes Kulturgut stehen dabei natürlich im Kern dieser Dualität.

Denn auch in Berlin findet sich diese Dualität, wenn man auf der einen Seite der Museumsinsel Prunkgebäude der alten Friedrichstadt sieht, welche auf der gegenüberliegenden Seite von Konsumtempeln konterkariert werden. Doch erschien mir diese Art des Zusammenseins eher voneinander losgelöst und nicht kodependent und verwoben wie dort in Japan. Man suchte entweder die Geschichte auf und lief wohl gezwungen an den Tempeln des Kapitalismus der Moderne vorbei oder realisierte eben andererseits nicht, an welchen historischen Gebäuden man gerade vorbei spurtete, um das neue Smartphone im Flagshipstore zu kaufen. In Japan schien mir diese Verzahnung miteinander anders. Zum einen wurden traditionelle und kulturell tragende Symbole und Kleidung an vielen Stellen zelebriert und auch bewusst inszeniert. So gelangte die Tradition auch an Orte derer Architektur nicht danach wirkte. Andererseits schien der Anteil, sei es nun planerisch oder durch den Zufall gewachsen, von traditionellen Bauweisen und kleinen Straßen und Plätzen ebenso ausgewogen hoch, wie die Praktikabilität der Moderne und ihrer Glas-Stahl-Beton-Architektur. Über Allem liegen vermutlich der kulturelle und nationale Stolz, sowie das Gefühl der Gemeinschaft, innerlich und äußerlich als geschlossen in der Selbstwahrnehmung erkennbar und klar definiert zu sein. Durch die schon beschriebenen sozialen Konventionen und vielen Benimmregeln, schien es eben das zu sein, was diese Mischung miteinander verband und tragfähig machte. Die Menschen dort, die diese auf ihre Art eigensinnigen Orte belebten, die Tradition verinnerlichten, zelebrierten, aber daraus keinen überhöhten Wert seiner Selbst wegen kreierten. Sie schufen diese Verbindung aus Historie und Aufbruch in die Zukunft der künstlichen Intelligenz und Robotik ohne viel Aufsehen zu erregen, fast schon still.

Wir Vier deutschen Touristen jedenfalls waren froh nur einen Teil dieses prunkvollen Komplexes zu besuchen und ein Gefühl davon zu bekommen. Der nächste Teil des Palasts war der Zierpflanzengarten, den wir prompt ansteuerten und hofften vor Ort ein wenig Schatten zu erhaschen. Im Garten angekommen machten wir einige Fotos vor und von dem Koi-Teich und genossen die Ruhe auf einem kleinen Hügel des angelegten Wasserfalls. Nach nun ein paar Stunden des gemeinsamen Schwitzens in der Mittagssonne, entschieden wir uns das Gelände zu verlassen und zurück zum Hotel zu gehen. Wir einigten uns auf eine Pause, um uns vielleicht später am Tag noch einmal an anderer Stelle zu treffen.

Auf dem Rückweg kehrten wir noch in einen der Konbinis in der Nähe des Hotels ein. Ich wies sie auf einige gute Snacks hin und wir speisten gemeinsam einige unserer Errungenschaften wie „Melon Pan“ (Mit Zucker bestreutes süßes Brot, das vor dem Backen so geschlitzt wird, um eine aufgeschnittene Melone zu imitieren) oder „Baumu“ (der von mir geschätzte Baumkuchen). Diesen Zuckerschock mit uns tragend, in der Mittagshitze durch die drückend warmen Nebenstraßen schleichend, machten wir uns also wieder auf zur kalten Hotellobby. Die Pläne der Familie für den Abend waren noch eher lose. Ich hingegen wollte meine nun gewonnen Mobilität ausnutzen und mir Einiges ansehen. Also verweilte ich nur kurz, entspannte ein wenig in der Kühle des klimatisierten Zimmers und machte mich wieder auf den Weg. Wie schön, dass ich nun fast unbeschwert herumlaufen konnte.

In den vorigen Tagen hatte ich mir bereits einige Attraktionen bereitgelegt, die ich nun ansteuern würde. Den Tokio-Tower erledigte ich bereits am Vortag, sah auch so manches Viertel von Interesse. Die jedoch für mich als großer Studio-Ghibli-Fan relevanteste Sehenswürdigkeit des gesamten Aufenthalts in Tokio war das Ghibli-Museum. Meiner mehr oder minder miserablen Planung zu Schulde musste ich leider feststellen, dass auch dafür Tickets im Vorfeld gekauft werden mussten. Man erhielt zum Besuch ein Zeitfenster und wie zu erwarten, konnte man auch dort spontan keine Tickets erwerben, da auch jene Eintrittskarten personalisiert wurden. Sie waren bis auf ein Dreivierteljahr im Voraus ausgebucht. Mich davon nicht abhalten lassend, nahm ich die Reise in den Westen Tokios auf mich. Schließlich wollte ich es dennoch versuchen und ich erhoffte mir zumindest Zugang zum Souvenir-Shop zu erhalten. Diese Reise würde nicht beendet ohne einen Totoro mit nach Hause zu nehmen, dachte ich mir. Also fuhr ich mit der U-Bahn und den örtlichen Zügen, die einer S-Bahn glichen, zum Ort meines Interesses. An dieser Stelle ein kleiner Exkurs zum städtischen Nahverkehr.

Die Preise waren annehmbar, dafür, dass man ein so riesiges Netz nutzen konnte. Sehr sinnvoll und auch sehr gerecht kam mir der Ticketverkauf vor. Ein Automat, natürlich in mehrfacher Sprache verfügbar, fragte nach dem Ziel und so zahlte man ausschließlich diese Strecke. Sollte man sich spontan anders entscheiden, so könnte man die Differenz an den Schaltern jeder Station einfach nachzahlen und diese dann durch die Schranken verlassen. Dies hatte zur Folge, dass man nicht rein oder rauskam, ohne eine geltendes Ticket zu besitzen. Denn wie auch sonst in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens in Japan, standen dort sehr wachsame, grimmig dreinblickende Augen. Die zumeist älteren Männer wachten mit Argusaugen darüber, ob man sein Ticket auch ja abstempelte. Doch waren diese Herren bei weitem nicht so ruppig oder schroff, wie man sie aus manch anderen Metropolen kannte. Ich schaue dich an New-York! Die Freundlichkeit der Kundschaft gegenüber wurde auch im öffentlichen Nahverkehr sehr, sehr groß geschrieben.

Wie auch von den Shinkansen und anderen Regionalzügen gewohnt, fuhren die Züge pünktlich und immer. Also wirklich pünktlich und präzise ein und aus. Nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich war dieser Nahverkehr exakt. Das bedeutete, dass die Gleise mit automatisierten Stellwänden von den Bahnsteigen abgegrenzt wurden. Die Züge fuhren also immer passgenau vor jene Türen, die erst mit der Öffnung der Zugtüren Zugang zum Zug oder eben dem Bahnsteig gewährten. Die manchmal auf dem Boden aufgeklebten Linien, die markierten wo man warten solle, um den herausströmenden Menschen Platz zu gewähren, fanden sich auch dort auf einigen sehr belebten U-Bahnhöfen. So flossen die Menschen ein und aus, ohne sich zu blockieren und für Verzögerung zu sorgen. Außerdem fiel mir auf, dass die aus diesem Prinzip entstandene Ordnung eine detailliertere Ausschilderung und Hinweise für die Fahrgäste ermöglichte. Man konnte bereits während der Fahrt im Zug stehend, ablesen, wo man am nächsten Gleis aussteigen musste, um beispielsweise Fahrstühle am schnellsten zu erreichen. Auch den nächsten Anschluss zu einer anderen Linie konnte man so problemlos schnell ablesen. All das war bereits in der U-Bahn auf Bildschirmen zu erkennen und half mir immens bei der Orientierung. Es passierte mir immer noch in Berlin, dass ich an Stationen, die ich nicht so oft ansteuerte, einige Male hin und her lief, mich fragend vor der Ausschilderung und mit der Hilfe von Maps versuchte zu orientieren, wo ich nun die Treppen hochgehen sollte. So etwas passierte mir in Tokio nicht und das obwohl ich die Kanjis der Stationsnamen (dankbarer Weise auch in lateinischen Buchstaben darunter ausgewiesen) nicht lesen konnte und noch nie an all diesen nun angesteuerten Orten war.

So fuhr ich also bis nach Mitaka, ungefähr eine Stunde entfernt vom Hotel, um mir das Ghibli-Museum nur von Außen anzusehen und vielleicht ein Mitbringsel zu ergattern. Es war ein Sonntag und ich wusste nicht, ob die Geschäfte, die wohl auch meist einen Ruhetage nahmen, überhaupt geöffnet hatten.

Nun denn, ich kam am Bahnhof Mitaka an und lief das Stück zum Museum. Die Straßen und Wege schwirrten voller Menschen, die ihren Einkäufen und Freuden des Wochenendes nachgingen. Durch die frühe Nachmittagshitze schoben sich Tausende mit Sonnenschirmen oder Hüten gekleidete Menschen entlang der Fußwege und Straßen dieser eng bebauten Gegend. Mein Weg führte mich in die Richtung eines Parks. Während ich mich von der Szenerie einnehmen ließ und ein paar Fotos machte, sprach mich ein Youtuber an, der mit mir ein Interview machen wollte. Also hielt ich mit ihm ein Gespräch über das Reisen in Japan und Japan allgemein. Er schenkte mir zum Dank eine japanische Zutat zur Zubereitung von Süßspeisen. Er wirkte sehr nervös, ehrgeizig, auch wenn ich mir dort stehend schon nicht vorstellen konnte, dass dessen Kanal viele Abonnenten hatte. Es machte dennoch Spaß dort stehend eine kleine Reflektion zur Reise vorzunehmen.

Als ich dann endlich durch den Park, der das Museum beherbergte, lief, verspürte ich eine große Erleichterung. Die Kühle der Bäume fühlte sich an wie die reinste Entspannung. Auch dieser Park war mehr als nur Grünfläche. So fesselten mich die fleißig trainierenden Tennisspieler, die sich im Halbschatten der Bäume an ihrem freien Tag in der über 35 Grad Celsius warmen Luft die Bälle zuspielten. „Bewundernswert“ dachte ich und kam mir prompt wie ein sehr alter Mensch vor.

Ein paar Minuten später erreichte ich das Gelände des Museums. Unverkennbar ragte es durch das Grün des Parks. Der richtungsweisende Strom der Touristen führte mich zum Eingang. Ich lief um das Gelände herum, nahm ein paar Erinnerungsfotos mit und suchte den Eingang zum Souvenir-Shop. Doch musste ich enttäuscht feststellen, dass jener auch nur für Gäste mit einem Ticket zugänglich war. Als überbleibende Alternative standen zwei Mitarbeitende am Rande des Geländes und verkauften von einem Handkarren herunter einige kleine Ghibli-Artikel. Ich hielt ein kleines Gespräch, indem sie mir verrieten, dass der größte Souvenir-Shop gar nicht dieser, sondern am Tokio-Tower gewesen sei. Dankend für diese Information und mir einen kleinen Schlüsselanhänger in Form eines Staubgeistes aus dem Film „Mein Nachbar Totoro“ oder auch „Chihiros Reise ins Zauberland“ gönnend, lief ich wieder zurück zum Bahnhof. Am Tokio-Tower war ich schließlich schon und dort gab es den von mir gesuchten Totoro ebenfalls nicht. Nun ja, so hatte ich immerhin einen flauschigen, guten Grund noch einmal nach Japan zu kommen.

Zweierlei körperliche Phänomene traten nun auf, die eher unangenehm waren. Ich merkte wie sich meine Füße wieder über die Belastung beschwerten und ich musste richtig dringend Wasser abstellen. Normalerweise waren ja überall Toiletten zu finden, doch nicht mitten im Park und in das Museum durfte ich nicht rein. Also musste ich nun wohl oder übel meiner Berliner-Park-Mentalität Platz machen und mir eine dicht bewachsene Ecke in einem Busch suchen, um mich des vorher konsumierten Tees zu entledigen. Seltsam wie die gleiche Tätigkeit je nach Kontext absolut unterschiedlich empfunden werden konnte. In meiner Heimatstadt Berlin war dieses Verhalten absolut normal, wenn auch nur toleriert und eigentlich auch gegen die Regularien. Dass der dadurch entstehende Müll durch Papiertücher und ähnliche Produkte keineswegs tolerabel bleiben, steht außer Frage. Praktisch betrachtet blieb einem in den meisten Parks jedoch keine Option, da dort nirgendwo sanitäre Anlagen bereitstanden, zumindest bis vor ein paar Jahren. Nun also, im Park in Mitaka stehend, mich meiner Natur hingebend und mit dem kleinen Wäldchen einen flüssigen Pakt der Zurückgabe von Materie schließend, fühlte ich mich fast wie ein Verbrecher, den man bei der Tat ertappen könnte.

Da ich nun schon kriminell war, gönnte ich mir auch noch eine kleine Zigarettenpause in einer abgelegen Stelle des Parks. Das Gefühl des kriminellen Delikts kalt den Nacken herab atmend zu spüren, machte ich mich also wieder zurück zum Bahnhof. Auf zur berühmten Shibuya-Station und allem, was mich dort erwarten würde.

Die Sonne stand schon nicht mehr am höchsten Punkt und ich machte mich auf zur wohl berühmtesten Kreuzung der Welt. Wie zu erwarten, waren die Verbindungen dorthin übervoll. Dies war das erste und einzige Mal, dass ich mich im Nahverkehr fühlte, wie man es aus den klischeebehafteten Bildern über Japans ÖPNV kannte. Dicht gedrängt und für einen Abend der Party herausgeputzt, liefen dort abertausende Menschen umher. Ein großer Teil der dort befindlichen Menge erschien mir ebenfalls Touristen zu sein, denn viele hunderte Kameras und Telefone wurden über die Köpfe der Masse gehoben, um ein Panorama zu schießen oder ein Video zu drehen. Nun war ich auch ein Teil davon und wusste gar nicht wohin mit mir.

Ich umging die große Kreuzung vorerst, schlich am Rand des Geschehens entlang und stolperte in eine weitere Gruppe von knapp hundert Menschen, die um die berühmte Hundestatue standen. Nichts von der einfühlsamen Bedeutung dieser Statue blieb mehr, als ich sah wie die Touristen in einer Art Schlange standen, um sich für ein paar Sekunden vor der Bronze posierend ablichten zu lassen. Wer diese Geschichte noch nicht kennt, dem sei die Hollywood-Adaption „Hachiko“ dieser herzerweichenden Erzählung nahegelegt. Im Kern dreht sich diese Geschichte um endlose Loyalität und die echte Sorge und Mitgefühl für alle Lebewesen in seiner Lebenswelt. Eine, wenn man den zeitlichen Kontext der Geschichte betrachtet, sehr japanische Erzählung. Kurz vor dem zweiten Weltkrieg lebte Hachiko und gilt bis heute als ehrenwert. Die Verehrung ist sogar so groß, dass man die Bronze, die man während des zweiten Weltkriegs wegen Ressourcenmangel einschmolz, nach dem Vorbild des Originals für den heutigen Standort erneut goss.
Im Versuch die aufgeregte Menschenmenge nicht aufs Foto zu bekommen, wartete ich dort einige Minuten, um die davor posierenden Paare und Freunde nicht ins Bild zu bekommen. Ich dachte an den irgendwie sehr kitschigen, wenn auch schönen Film, der mir, als eine mit Hunden aufgewachsene Person, jedes Mal ein Tränchen abverlangte. Absurd wie solche Berühmtheit einem Hund zuteil wurde und noch viel seltsamer, dass so ein überwältigender Andrang für nur ein paar Sekunden und ein schnell geschossenes Foto in cooler Pose bestanden.

Mich dem Strom der Massen nicht mehr widersetzen können, reihte ich mich an der legendären Kreuzung ein. Als die Ampel Grün schaltete liefen die tausenden Menschen los, ein eigenartiges Gefühl, denn so aus dieser ganz menschlichen Perspektive, auf Augenhöhe mit allen anderen, wirkte es bei Weitem nicht so beeindruckend oder besonders, wie man es aus der Vogelperspektive vermutete. So lief ich einmal auf die eine Seite, schaute mir den riesigen mit überdimensionalen Bildschirmen und von Werbung ausgeleuchteten Platz einmal von dort an und lief wieder zurück. Gar nicht so aufregend, wie gedacht.

Die an den Hochhäusern angebrachten LED-Leinwände mussten unglaublich groß gewesen sein, da sie noch von hunderten Metern Entfernung wie ein sehr, sehr großer Fernseher oder eine sehr kleine Kinoleinwand wirkten. Etwas, das mir bisher nur unterschwellig aufgefallen war, wurde mir nun umso bewusster. Die dort gezeigte Werbung oder Trailer zu neuen Animes liefen alle mit Ton. Das hieß, dass der gesamte Platz mit mehreren hunderten großen Lautsprechern beschallt wurde. Diese Geräuschkulisse war einzigartig: Werbung auf teilweise 3D-fähigen Bildschirmen, tausende Menschen, die in Erstaunen und ausgelassener Abendstimmung diesen Platz mit Geräuschen und Gesprächen füllten und die zielgerichtet marschierenden Angestellten, die aus den Büros durch die Menschenmenge schnitten, um zu den Zügen oder einer Bar zu gelangen.

Da die Gegend Shibuya noch mehr als die Kreuzung zu bieten hatte, folgte ich meinen Füßen und Augen durch die vielen Straßen in der Nähe. Ich vertraute meinem Bauch und entdeckte auch gleichzeitig die Rückseite dieser glänzenden und blinkenden Oberfläche. In Nebenstraßen sammelte sich der Müll der vielen Tausenden Touristen, die Rückseiten der so aufwendig ausgeschmückten Häuser war nun alles andere als schmuckvoll. Auf nur wenigen hundert Quadratmetern fand dort einfach alles statt. Im einen Moment durchquerte ich eine große Gruppe von in Merchandise gekleideten Fans, die auf den Einlass zum Konzert ihres Lieblingskünstlers warteten, eine Häuserecke weiter schoben sich tausende Menschen durch Gassen in Richtung der Kreuzung, innerhalb weniger Meter konnte man nur feine Nuancen von Restaurants erkennen und immer präsent, die Gruppen aus Ausländern, die innerhalb dieser lautstarken Umgebung noch die Lautesten waren.

Es war an der Zeit meinen körperlichen Bedürfnissen nachzukommen und ich betrat einen Ramenladen auf einer der mit Schildern und Leuchtreklame zugepflasterten Nebenstraßen. Die Ramen schmeckte gut, war sehr kräftig und ich schwitzte ungemein beim und nach dem Essen. Nur ein paar Minuten danach fing mein Magen an zu blubbern, erst wenig, dann immer wieder lauter und heftiger. Noch kein Grund zur Sorge, dennoch unangenehm. Zumal ich erst wenige Tage vorher eine Darm-Explosion von einem anderen Stern „überlebte“. Noch ging es mir gut und ich lief noch einige Minuten ziellos durch dieses Viertel.

Während ich dort so ziellos herumirrte, fielen mir wieder die schon häufig in anderen Städten angetroffenen Hostessen auf dem Hauptplatz Shibuya ins Auge, wie sie dort versuchten Touristen in ihre Etablissements und Bars zu locken. Es fanden sich auf diesem Platz mit Einbruch der Dunkelheit ganze Teams, quasi Special-Forces, aus knapp gekleideten jungen Frauen. Da gab es das Team Anime-Prinzessin, das Team Highschool-Mädchen und auch die an diesem bunten und lauten Ort eher unauffälligen Cosplayerinnen. Ich lächelte meist mit einer Mischung aus Ironie und echter Freundlichkeit, wenn sie versuchten mich zu kontaktieren und verschwand auf leisen Sohlen schnell außer Reichweite.

Die Sonne war nun bereits dabei unter zu gehen, als ich meine Rückreise antrat. Auf der Fahrt wurde meine Magensituation immer unausstehbarer, sodass ich schon während der Fahrt überlegte, wo ich die sonst immer und überall verfügbaren und exzellent sauberen öffentlichen Toiletten aufsuchen könnte. Doch wie es sich bereits im Park ergab, fand ich auch dieses Mal keine auf meinem Weg und eilte daher zum Hotel. Erneut saß ich im Bad des Hotels angekommen also einige Zeit und zweifelte nun ernsthaft an meiner allgemeinen körperlichen Verfassung. Erst die Entzündungen der Haut und dann die mehrfach auftretenden Magenverstimmungen. Doch ich ließ mich nicht der Illusion anheim fallen, dass ich an irgend etwas Gravierenderem erkrankt sei. Es war wohl einfach eine Akkumulation mehrerer zeitlich ungünstig gelegener Schwierigkeiten. Kein Grund zur Sorge also. Die körperliche und psychische Belastung würde schon mit dem morgigen Tag rapide Abnehmen.

Ich nahm es mit Gelassenheit und sah die Gelegenheit nun noch mehr Tee zu trinken und Onigiri aus dem Konbini zu essen. Ob ich dies vermissen würde, war außer Frage. Ob ich nun aus dieser erneut entfachten Liebe für dreieckige Reisbällchen mehr davon zu Hause zubereiten sollte, blieb herauszufinden.

Dieser Tag war sehr ereignisreich, zwischen Tradition und Moderne, Stille und Fülle. Ich freute mich darüber endlich ein wenig vom Tokio-Flair gesehen zu haben. Ich war mir bewusst, dass das, was ich von Tokio kannte, ebenso repräsentativ war, wie ein Museumsbesuch, den ich mit den Händen vor dem Gesicht und nur gelegentlichem durch die Schlitze zwischen den Fingern hindurch spähen, bestritten hätte. Ich musste definitiv nochmal in diese Stadt, mir mit mehr Zeit und in einer anderen Wetterlage Tokio „erarbeiten“.

Meine letzte Nacht in Tokio brach an, ich packte alle meine kleinen und größeren Errungenschaften in den großen, blauen Rucksack und legte mich sehr erschöpft ins Bett.

Über Hünerfürst.de

Einer der bekanntesten deutschen Netzkultur Blogs seit 2009. Nils Hünerfürst und seine Familie schreiben hier auf Hünerfürst.de über Technik, Kultur, Essen und Videospiele.

Über den Autor

Lars Hünerfürst

Minimalistisch und musikalischer Comic Enthusiast - lief zu Fuß von Berlin nach Paris.

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