Simon vom Fluss – Gesamtausgabe Band 2

22. Februar 2022
3 Minuten Lesezeit

Viele mediale Erzeugnisse von vor 50 Jahren sind dieser Tage wegen ihrer mittlerweile veralteten Perspektive zu Rollenbildern oder Gesellschaft kaum rezipierbar. Doch dann gibt es solch zeitlose Werke wie „Simon vom Fluss“, die einem eindrucksvoll das Gegenteil beweisen.

Diese in ihrem Umfang sehr große Gesamtausgabe wurde vom Cross Cult Verlag im Hardcover Albumformat verlegt. Inkludiert ist – wie auch im ersten Band – ein ausführliches Dossier zum Lebensweg des Claude Auclair. Darin wird klar, wie verwoben das Werk mit seiner Entstehungszeit ist. Und trotzdem wirken die Dialoge und Figuren über ihre Epoche hinaus, sogar bis in die heutige Zeit.

Im Kontext der Entstehung

Dank des ausführlichen Dossiers zu Beginn dieser Gesamtausgabe versteht man die erzählten Geschichten erheblich besser. Vor dem Hintergrund ihrer Entstehung beschäftigte Belgien und Frankreich die Umwälzung der Gesellschaft, Anti-Atomkraft-Bewegungen erstarkten zusehends und das Bild der weiblichen Rolle in der Gesellschaft veränderte sich mehr zur Gleichberechtigung hin. So verwundert es nicht, dass die erste Geschichte eine ist, in der gleich zwei dieser Themen verarbeitet werden.

Simon gelangt in einen Sumpf, der verlassen scheint. Er trifft eine alleinerziehende Mutter mit ihrer bereits nahezu erwachsenen Tochter. Die Verfassung der beiden ist nicht gut und er bleibt, um zu helfen und selber wieder zu Kräften zu gelangen. Schon früh scheint ein Geheimnis die Beziehung der Frauen und ihren Heimatort zu überschatten. Dass ein altes Atomkraftwerk, ein Kult und ein Eifersuchtsdrama in dieser homogenen Form zu einem katastrophalen Ende kommen müssen, scheint unausweichlich. Dieses Kapitel fügt sich perfekt in die bisherigen Erzählstränge ein und bildet ein exzellentes Fundament für die kommenden.

Im zweiten und sehr umfangreichen Teil wird Simon, der mit seinen Kräften am Ende zu sein scheint, von Pilgern gefunden. Sie nehmen sich ihm an, pflegen ihn und laden ihn nach seiner Genesung ein, die Gruppe weiterhin zu begleiten. Ihr Ziel ist eines der „Zentren“, die einst große Städte waren, um dort Techniken der Architektur zu erlernen. Während eines mehrere Monate andauernden Aufenthalts in einem Dorf auf ihrem Weg erfährt man, wie die Lebensrealität der einfachen Landbevölkerung in dieser postapokalyptischen Welt aussieht. Die Gemeinschaft pflegt eine außerordentliche Verbindung zur Natur. Viele der Motive lassen sich auf Auclaires ruralen und naturverbundenen Lebensstil zurückführen.

Das Ziel der Reise

Simon muss jedoch in eines dieser Zentren. Er ist schließlich noch immer im Besitz einer Waffe aus der Zeit vor dem knappen Untergang der Menschheit. Gemeinsam mit den Pilgern entlarven sie falsche Propheten, die im Auftrag der „Herren aus dem Zentrum“ für Desinformation, Angst und religiöse Verklärung sorgen. Der Aufenthalt im Zentrum mit seiner nunmehr Lebenspartnerin Emeline birgt viele Gefahren. Simon sucht den Kontakt zu den Bandenführern, um einen gemeinsamen Umsturz der Ordnung zu erwirken. Eine Revolution gegen die Herren der Zentren stellt er sich vor. Doch rechnet er nicht mit der animalischen und verrohten Seite dieser Clans, die sich mehr in Gewalt als in humanistischen Werten ihrer Vorfahren verwirklichen.

Es entstehen spannende Dialoge zwischen Simon und einem der gefürchtetsten Killer, der sein Unwesen im Zentrum treibt. Jason Barehead ist eine alternative und moralisch verkommenere Alternative zum Titelhelden, der im Kern jedoch ähnliche Ziele anstrebt. Mehrere Wochen planen sie gemeinsam in seinem Unterschlupf, wie sie die Parteien gegeneinander ausspielen und schlussendlich die unheilbringende Waffe zerstören könnten.

Dabei entsteht eine wirklich großartige Diskussion zwischen Simon und dem ausgestoßenen Jason, die von einem absolut lesenswerten Monolog Emelines beendet wird. Diese zwei Seiten wirken so brandaktuell und zeitgemäß, dass es erschreckend ist, wie langsam eine wirkliche Veränderung in der Gesellschaft vonstatten geht.

Der Stil

Es ist nicht nur eine herausragende Arbeit in der Erzählung, es ist auch zeichnerisch und in der Umsetzung der Szenerie mehr als hochklassig. Natürlich darf man nicht außer Acht lassen, dass dieses Werk bereits knappe 50 Jahre alt ist und sich die visuellen Gewohnheiten doch stark geändert haben. Dennoch zeigt sich Claude Auclairs fantastisches Auge auch in dieser zweiten Gesamtausgabe.

Die endlosen Weiten, die nur von Strommasten und gelegentlichen Hochhäusern gebrochen werden, die ungezügelte Natur, eine Härte in den Expressionen der Figuren und Vielfalt der Gefühle transportieren sich virtuos.

Dem Anschein nach haben sich viele Künstler im Verlauf der Comic-Historie von Auclairs Arbeiten inspirieren lassen. Man kann so viel darin sehen, das man in vor allem US-amerikanischen Comics der 80er wiederfindet.

Ebenso gut funktioniert das Spiel mit den Farben. Sie sind gedeckt, weich und unterstützen die Atmosphäre der natürlichen Verbundenheit sehr treffend. Die Kolorierungen sind nicht sehr häufig aus mehreren Ebenen bestehend, also nicht sehr oft von Komplexität zeugend, aber effektvoll. Die Dimension und die Tiefe entstehen durch Schraffur, Schattierung und Perspektive auf Personen oder Natur.

So viel Western-Flair, gepaart mit Apokalypse-Film und komplementiert von einer gesamtgesellschaftlichen Kritik findet sich sehr selten in einer Graphic Novel dieses Genres.

Fazit
Auch dieser zweite Band ist extrem empfehlenswert. Die unglaublich ausführlichen Ausführungen zum Werdegang des Claude Auclair könnten teilweise ein wenig redundant sein, da sich einiges bereits in Band 1 lesen lässt. Allerdings bieten die einführenden Worte ein noch komplexeres Bild des Künstlers und lassen die Abenteuer von Simon umso lebendiger werden. Es gehört nicht ohne Grund zu einem der Klassiker des franko-belgischen Comics, der es ganz zweifellos verdient hat, in einem solchen Re-Print und Erstveröffentlichung noch mal neu aufgelegt zu werden. „Simon vom Fluss“ zieht einen in den Bann und gehört auf jede Must-read-Liste.
Pro
Zeitloses Geschichtenerzählen zu gesellschaftlichen Themen, visuell beeindruckend mit einer Mischung aus westlicher und apokalyptischer Ästhetik, zum Nachdenken anregender Dialog über gesellschaftliche Veränderungen
Kontra
Einige Redundanzen im detaillierten Hintergrund des Künstlers könnten für Leser, die an zeitgenössische Stile gewöhnt sind, optisch veraltet sein.
9.6

Lars Hünerfürst

Minimalistisch und musikalischer Comic Enthusiast - lief zu Fuß von Berlin nach Paris.

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